by S Alexander Alich, Übersetzung von Leonie Werner

Braucht man einen Lehrer, eine Lehrerin?

Wir leben in einer besonderen Zeit in der Geschichte, denn nie zuvor gab es diesen schnellen und leichten Zugang zu Büchern, Artikeln und Erfahrungen anderer Menschen. Heute steht uns eine Flut von Informationen zur Verfügung, die uns früher in dieser Fülle nicht zugänglich war. Manchmal wissen wir allerdings nicht, wie wir all diese Informationen umsetzen oder anwenden können. In dem Fall fehlt uns ein Lehrer, der uns so durch diese Informationsflut lotst, dass wir sie für unser eigenes Wachstum nutzen können. Genau hier beginnt das wirkliche Lernen und hier warten auch die Herausforderungen auf uns.

Spirituelle Lehrer können

  • eine sichere Lernumgebung für Schüler/Schülerinnen schaffen, in der sie neue Erfahrungen machen können. Diese Erfahrungen können wir uns nicht aneignen, indem wir über sie lesen – gute Lehrer werden uns nicht nur neue Wege und Möglichkeiten eröffnen, sie helfen uns auch, die dabei gemachten Erfahrungen in unserem Leben umzusetzen. Meine Lehrer nannten dieses Erarbeiten der Erfahrungen die “Medizin”.
  • ihren Schülern/Schülerinnen helfen, sich in der Informationsflut zu orientieren und herauszufinden, in welcher Richtung es für sie weitergeht.
  • ihren Schüler und Schülerinnen auf ihrem eigenen Weg Hilfe und Führung anbieten – was für eine Person richtig sein mag, kann für die andere überhaupt nicht hilfreich sein oder, im schlimmsten Fall, noch mehr Probleme schaffen.
  • können als Spiegel für ihre Schüler und Schülerinnen fungieren. Dies ist wahrscheinlich einer der wichtigsten Aspekte im Vermitteln der Lehre. Wenn wir unsere Gewohnheiten erkennen können, ist das für uns der erste Schritt, um aus ihnen herauswachsen und uns von ihnen befreien zu können. In Medizinzirkeln verläuft dieser Prozess noch intensiver. Medizinzirkel sind keine geselligen Gruppen, sie sind sogar noch stärkere Spiegel, in denen man sich selbst sehen – sowohl das, was man an sich mag, als auch das, was man an sich ablehnt – und dann damit arbeiten kann.
  • können ihren Schülern und Schülerinnen helfen, durch Erfahrungen und deren Umsetzung eine spirituelle Basis zu schaffen – bei dieser Basis geht es nicht nur darum, was sie im Moment in sich trägt, sondern auch darum, was sich in Zukunft aus ihr entwickeln kann.
  • ihren Schülern und Schülerinnen helfen, auf der Erde zu verwirklichen, was sie von ihren Geisthelfern gelernt haben. Weltliche Lehrer in Menschengestalt helfen uns dabei, uns irdische Belange anzuschauen und diese durchzuarbeiten. Ohne diese Arbeit bleiben all unsere guten Ideen und Träume in unseren Köpfen stecken und werden nie in unserem täglichen Leben umgesetzt.

Eine gute Lehrer-Schüler-Beziehung

Wie alle anderen Beziehungen braucht auch die Lehrer-Schüler-Beziehung Zeit, um sich zu entwickeln. Auch hier gilt: was wir in sie investieren, bekommen wir zurück. Dabei gibt es einige Faktoren, die zum Gelingen dieser Beziehung beitragen können.

Vertrauen: Beide Seiten, sowohl Lehrer als auch Schüler, brauchen Zeit, um Vertrauen ineinander zu gewinnen. Sucht man einem Lehrer nur auf, um etwas von ihm zu bekommen, dann geht man unter Umständen mit einer Menge Aufzeichnungen weg – hat aber nicht viel mehr erhalten als beim Lesen eines Buchs. Kein Lehrer und keine Lehrerin schätzt es, wenn sein/ihr Lebenswerk einfach nur konsumiert wird. Doch manchmal hungern wir so sehr nach Informationen und Aufmerksamkeit, dass wir völlig vergessen, auch etwas zurückzugeben für das, was wir bekommen. So entsteht schließlich ein Ungleichgewicht, das der Beziehung schadet oder sogar deren Ende herbeiführt.

Geduld: Hier kann unser Verstand uns auf unserem spirituellen Weg in Schwierigkeiten bringen. Unser Verstand bewegt sich weit schneller als unser Körper und unser Herz. Er kann bereits denken, wir wären schon wieder bereit für etwas Neues, bevor wir überhaupt mit dem gearbeitet haben, was wir gerade gelernt haben. Doch um etwas Neues aus der Lehre aufnehmen zu können, muss in unserem Innern Platz dafür sein und ein echtes Bedürfnis danach existieren. Viele werden ungeduldig und brechen ihren Prozess ab, wenn sie trotz des Drängens ihres Verstandes nicht sofort neue Antworten bekommen oder – noch schlimmer – sie versuchen, jemanden zu finden, der ihnen die gesuchte Information gibt, obwohl sie noch gar nicht bereit dafür sind.

Offene, ehrliche und direkte Kommunikation: Auch wenn wir alle in den Augen anderer gut aussehen wollen- so ist das wenig förderlich in der Beziehung Schüler/in-Lehrer/in. Wenn wir so ehrlich wie möglich mit unseren Lehrern sind,
kann uns das viel weiterbringen als alles andere.

Verantwortung: Wir müssen die Verantwortung übernehmen für das, was wir lernen, denn sonst kommen wir nicht weiter. Die Lehren und Erkenntnisse, die wir gewinnen, tragen Leben in sich und es erfordert viel Verantwortungsbewusstsein, damit umzugehen. Sobald wir etwas wissen, sind wir für dieses Wissen auch verantwortlich.

Stolpersteine auf dem Weg zum Wachstum

Verhaftet sein in Kämpfen, Dramen und Anziehung von negativer Aufmerksamkeit: Solange wir diese Abhängigkeiten nicht gelöst haben, werden wir nicht spirituell arbeiten können. Wir sollten diese Art von Problemen mit einem guten Therapeuten durcharbeiten, bevor wir uns dem spirituellen Weg zuwenden.

Ängste und Projektionen: Wenn wir jemanden treffen, der uns wirklich Hilfe bringen kann, dann kommen unsere tiefsten Ängste und ältesten Gewohnheiten an die Oberfläche. Das ist ein wichtiger Vorgang, denn jetzt können wir sie erkennen und mit ihnen arbeiten. Da unser Lehrer für uns als Spiegel wirken kann, müssen wir uns unserer Projektionen bewusst werden. Ich schlage eine kleine Übung vor für den Moment, an dem die Ängste an die Oberfläche steigen und wir denken, wir “können klar all die Probleme der anderen sehen”. Macht eine Liste mit all dem, das euch als ein Problem bei eurem Lehrer oder bei anderen um euch herum erscheint. Ist die Liste fertig, dann lest sie bitte noch
einmal, doch diesmal so, als hättet ihr eure eigenen Probleme aufgeschrieben. Ihr könnt euch dann fragen, was ihr in dieser Situation lernen könnt und was euer Anteil an der Situation ist.

Schüler/Schülerin für immer und ewig: Natürlich lernen wir ständig dazu, doch wenn wir unser Leben lang immer nur Schüler/Schülerinnen bleiben wollen, kann das bedeuten, dass wir keine Verantwortung übernehmen und uns nicht
weiterentwickeln wollen. Es hält uns auch in einem fortwährenden Zustand der Abhängigkeit.

Das Gelernte nicht umsetzen: Die Integration unserer Erkenntnisse zeigt uns, wo wir auf unserem Weg wirklich stehen. Wie wir leben, wie wir mit anderen und unserer Umwelt umgehen wird uns zeigen, wie viel wir “zu wissen glauben” und wie viel wir davon wirklich leben.

Wunsch nach einem Lehrer, der einfach sagt, was wie läuft: Wir sollten uns klar darüber sein, dass spirituelle Lehrer uns nicht vorschreiben, wie wir spirituell sein sollen. Eine solche Vorstellung ist eine Falle unseres Verstandes. Lehrer stellen uns vor Herausforderungen und schaffen für uns Wachstumsmöglichkeiten durch Erfahrungen. Diese Erfahrungen müssen wir aber selbst durchleben.

Das Ende der Schülerschaft würdigen und feiern

Alle Zyklen gehen irgendwann einmal zu Ende. Es gibt keine Ausnahme von diesem einfachen Naturgesetz. Manchmal muss etwas beendet werden, damit wir anfangen können, auf einer neuen Ebene zu arbeiten – manchmal ist das Ende auch der Schlusspunkt überhaupt. Es betrübt mich immer wieder, wenn wir uns in unserer konsumorientierten Gesellschaft nicht die Zeit nehmen, um das Ende unserer
Beziehungen zu würdigen und zu feiern. Wir denken meistens, wir müssten uns dramatisch oder zumindest ganz plötzlich voneinander trennen. Das drückt einerseits wenig Respekt für die gemeinsam geleistete Arbeit und die zusammen verbrachte Zeit aus und verhindert andererseits, dass wir unsere Beziehung auch wirklich beenden. Eine Beziehung wie die Lehrer-Schüler-Beziehung, in der spirituell gearbeitet wurde, erfordert mehr, damit sie wirklich beendet werden kann. Ich empfehle ein Abschlussritual, an dem sowohl die Schüler als auch die Lehrer teilnehmen, so dass die gemeinsam geleistete Arbeit gefeiert und beide wirklich aus ihren Funktionen entlassen werden können. Wir sollten am Schluss loslassen, die geleistete Arbeit würdigen und dann den neuen Platz feiern, an dem wir jetzt in unserem Leben stehen.