by S Alexander Alich, Übersetzung von Leonie Werner
Wenn wir anfangen, spirituell zu arbeiten, bringen wir bewußt oder auch unbewußt, einige Dinge mit. Wir bringen unsere Träume mit und unsere Hoffnung darauf, daß wir hier die Antworten und die Heilung finden, die wir suchen. Wir bringen unsere Ideen mit, unsere Erwartungen und unsere Vorstellungen darüber, wie die Arbeit mit dem Lehrer oder der Lehrerin ablaufen wird und wie er oder sie selbst sein sollte. Nicht zuletzt bringen wir auch unsere Gewohnheiten und die noch nicht völlig aufgearbeiteten Persönlichkeitsanteile mit in diese Arbeit hinein. Dies ist eine größere Enttäuschung für einige von uns, ganz besonders wenn wir zu einem neuen Anfang auf einem spirituellen Pfad aufbrechen möchten. Es ist Wunschdenken, wenn wir glauben, daß der Rest unseres Lebens uns nicht in die spirituelle Arbeit folgen wird. Leider ist die fehlende Offenheit für einen ehrlichen Blick auf die eigenen Gewohnheiten der häufigste Grund dafür, daß Menschen diese Arbeit wieder aufgeben.
Welches sind nun diese Gewohnheiten und wo kommen sie her? Von der spirituellen Perspektive aus gesehen, könnte man sagen, daß jeder von uns in ein Umfeld hineingeboren wird, das einige Herausforderungen für uns bereit hält. In diesem Umfeld lernen wir, zu überleben und so gut es geht für die Erfüllung unserer Bedürfnisse zu sorgen – und das ist grundsätzlich nicht schlecht. Vielleicht finden wir im Laufe unseres Lebens heraus, daß es andere oder bessere Verhaltens- oder Sichtweisen gibt, und genau dann, wenn wir versuchen, unser Verhalten zu ändern, werden unsere alten Gewohnheiten, die uns lange Jahre begleitet haben, oft zu Stolpersteinen.
Wenn Menschen sich der schamanischen Arbeit zuwenden, höre ich oft von ihnen: “Ich möchte mit meinen Gewohnheiten brechen!” Meine Antwort darauf ist normalerweise: “Wunderbar, welche Gewohnheiten hast du denn?” Darauf schauen mich die meisten mit großen fragenden Augen an, denn sie haben jetzt ein Problem. Wir müssen wir uns zuerst selbst klar sehen, bevor wir wissen können, was es zu verändern gibt. Wir müssen bereit sein anzunehmen, daß Dinge die wir schon seit langer Zeit tun, nicht automatisch schlecht sind und sofort geändert werden müssen. Ich habe einmal mit einem Klienten gearbeitet, der mir erzählte, daß er sehr hart daran arbeitete “das Alte in seinem Leben zu zerbrechen”, ohne erst herausgefunden zu haben, was “das Alte” war. Wenn ich ihm zuhörte, kam ich mir so vor, als würde ich jemanden dabei beobachten, wie er seine Möbel im Wohnzimmer mit verbundenen Augen umstellt. Ich muß wohl kaum hinzufügen, daß dies zu schweren Problemen für seine mentale und seine körperliche Gesundheit führte.
Wo sollen wir also beginnen? Das Beste ist es, wenn wir zuerst uns selbst und unsere Motivation erkennen. Je länger wir damit in unserer spirituellen Arbeit warten, um so schwieriger kann es werden, uns zu verändern. Das ist der Punkt, an dem die Arbeit mit einem guten Lehrer ein wirkliches Geschenk ist. Lehrer können auf diesem Weg die Funktion eines Spiegel übernehmen und uns damit helfen, uns selbst zu erkennen und wahrzunehmen, wo wir in unserem Leben im Kreis laufen. Doch Lehrer sind nicht immer verfügbar und es gibt auch andere Möglichkeiten für uns, wenn wir an uns selbst arbeiten wollen. Meine Lehrer haben mich vor vielen Jahren in die Arbeit mit dem Rad eingeführt und ich freue mich, es hier weitergeben zu können. Das Rad nennt sich Enneagramm. Es ist das Rad der Gewohnheiten, die wir am häufigsten mit in unsere spirituelle Arbeit hineinnehmen, und es zeigt auch erste Schritte, mit denen wir diese ändern können. Ich empfehle, sich zuerst das gesamte Rad anzuschauen und sich etwas damit vertraut zu machen. Es kann uns zu Anfang schwerfallen, und selbst auf diese Weise zu sehen.
1. Gewohnheit: Groll. Verinnerlichte Wut gegen sich selbst.
Die Weltsicht: ” Die Welt ist unvollkommen. Ich arbeite daran, sie zu verbessern.”
Kindheit: Die kritisierende Stimme der Eltern / Autoritätspersonen wird verinnerlicht.
Ausrichtung der Aufmerksamkeit: Was ist in der Situation richtig oder falsch.
Spirituelle Hindernisse: Der Anspruch, die spirituelle Arbeit gemessen an strengen verinnerlichten Maßstäben, perfekt zu tun.
Wachstumschance: Die eigenen verinnerlichten Regeln und Richtlinien zu hinterfragen.
Was helfen kann: Finde den Unterschied heraus zwischen ich sollte und ich will. Lerne, die Sichtweisen und Handlungen anderer zu respektieren und sieh den Wert, den diese Andersartigkeit hat. Erinnere dich daran, daß es so viele spirituelle Wege wie Menschen gibt.
2. Gewohnheit: Schmeichelei. Nach außen verlagertes „was fühle ich?” Bestätigung für das Selbst im Außen suchen.
Die Weltsicht: “Die Menschen brauchen meine Hilfe. Ich werde gebraucht.”
Kindheit: Geliebt werden für die eigene Hilfsbereitschaft. Sich darauf konzentrieren, was andere brauchen und sich selbst darüber vergessen.
Ausrichtung der Aufmerksamkeit: Bestätigung für sich selbst.
Spirituelle Hindernisse: Die Arbeit machen um dadurch dem Lehrer, den anderen Schülern oder dem Partner zu gefallen.
Wachstumschance: Sich fragen, für wen tue ich das? Für mich selbst oder um dadurch Bestätigung von anderen zu bekommen?
Was helfen kann: Die eigenen Bedürfnisse erkennen, anstatt die der anderen zu befriedigen. Unterscheiden, wann andere Menschen deine Hilfe wirklich brauchen und wann nicht. Die Gewohnheit anschauen, etwas zu geben, um dafür etwas zu bekommen. Versuchen Hilfe frei und ohne Erwartungen zu geben.
3. Gewohnheit: Image und Täuschung. Gefühle werden beiseite geschoben, um den Job zu erledigen.
Die Weltsicht: “Die Welt achtet und respektiert nur die Gewinner. Mißerfolg muß auf jeden Fall vermieden werden.”
Kindheit: Hat nur Bestätigung für das bekommen, was erreicht wurde – nicht für sich selbst.
Ausrichtung der Aufmerksamkeit: Bestätigung für eine wirklich gut gemachte Arbeit.
Spirituelle Hindernisse: Ein perfektes spirituelles Image zu erschaffen, ohne die dazugehörige innere Arbeit zu tun.
Wachstumschance: Vertrauen, daß das Risiko des Mißerfolges ein Schritt in Richtung Wachstum sein kann.
Was helfen kann: Lernen zwischen Tun und Fühlen zu unterscheiden. In schwierigen Situationen ausharren, anstatt ein neues Projekt zu beginnen. Ruhig ausharren und der Angst und den Gefühlen erlauben, an die Oberfläche zu kommen.
4. Gewohnheit: Melancholie. Nach innen verlagertes „was fühle ich?” Dramatisieren der Gefühle.
Die Weltsicht: ” Etwas fehlt. Die anderen haben es. Ich wurde verlassen.”
Kindheit: Hat wirklich geliebte Menschen verloren und gelernt, daß es nicht sicher ist im Moment zu leben und zu lieben.
Ausrichtung der Aufmerksamkeit: In der Vergangenheit oder Zukunft ist es am besten – am schlimmsten ist es im hier und jetzt.
Spirituelle Hindernisse: Man fühlt sich von der spirituellen Arbeit angezogen und will diese als einen Ausweg aus der Alltäglichkeit nutzen.
Wachstumschance: In jedem Moment sein und lernen, den Wert des Augenblicks zu erkennen.
Was helfen kann: Die Trauer völlig zuzulassen, um sie damit wirklich zu verabschieden. Die Schönheit und Freude im Alltag finden. Im hier und jetzt zu Hause sein. Die Aufmerksamkeit abziehen von dem, was noch nicht geschafft ist, und sie auf das richten, was schon bewältigt wurde.
5. Gewohnheit: Geiz. Verinnerlichte Angst – Furcht vor Gefühlen.
Die Weltsicht: ” Die Welt ist zudringlich. Ich muß allein sein, um denken und auftanken zu können.”
Kindheit: Hat gelernt, sich zuzumachen und zurückzuziehen, um zu überleben.
Ausrichtung der Aufmerksamkeit: Was wollen die anderen von mir?
Spirituelle Hindernisse: Das Horten von spirituellem Wissen, von Zeit und persönlichem Raum.
Wachstumschance: Den Unterschied zwischen intellektuellem Wissen und spirituellen Wachstum wahrnehmen.
Was helfen kann: Wahrnehmen, wenn Gedanken und Emotionen vor anderen verborgen werden. Den Unterschied zwischen Ideen und gelebten Erfahrungen wahrnehmen. Aktivitäten finden, die den Körper, Herz und Verstand zusammenbringen.
6. Gewohnheit: Zweifel. Angst, die auf das Umfeld projiziert wird.
Die Weltsicht: ” Die Welt ist ein bedrohlicher Ort. Stellt Autoritäten in Frage.”
Kindheit: Wurden von Autoritäten aufgezogen, die nicht vertrauenswürdig waren.
Ausrichtung der Aufmerksamkeit: Die versteckten Absichten der anderen finden.
Spirituelle Hindernisse: Zweifel am Lehrer, an der Lehrerin, am System, am Schülerkreis und am eingeschlagenen Weg.
Wachstumschance: Vertrauen, daß die Wahl, die du getroffen hast, und die Arbeit, die du in Gang gesetzt hast, dich dorthin führen werden, wohin du für dein Wachstum gehen mußt.
Was helfen kann: Realitätschecks mit einem vertrauenswürdigen Freund oder einem Lehrer. Wahrnehmen, wenn das Denken das Handeln ersetzt. Termine realistisch setzen, so daß sie trotz Zögern und Hinausschieben eingehalten werden können.
7. Gewohnheit: Permanentes Planen. Nach außen verlagerte Angst wird in angenehme Projekte projiziert.
Die Weltsicht: ” Die Welt ist voll von Möglichkeiten. Ich freue mich schon auf die Zukunft.”
Kindheit: Hat gelernt, in angenehmen Erinnerungen zu leben, um zu überleben.
Ausrichtung der Aufmerksamkeit: Die Aufmerksamkeit ist immer auf das Finden von angenehmen Möglichkeiten gerichtet.
Spirituelle Hindernisse: Plant, spirituelle Arbeit zu machen, kann sich aber nicht für einen Pfad entscheiden, aus Angst die anderen Möglichkeiten zu verlieren.
Wachstumschance: Sich für einen Pfad entscheiden und auf ihm einen Kreislauf zu durchlaufen.
Was helfen kann: Probleme nicht verdrängen und nicht hoffen, daß sie schon vorübergehen. Sich auf die jetzige Herausforderung konzentrieren, anstatt sich vorzustellen, welche anderen Dinge man jetzt tun könnte. Akzeptieren, daß die spirituelle Arbeit in Zyklen abläuft und es dabei Höhen und Tiefen geben wird.
8. Gewohnheit: Rache. Übersteigerte Wut.
Die Weltsicht: ” Die Welt ist ungerecht. Ich verteidige die Unschuldigen.”
Kindheit: Höchst sensible Kinder. Sie mußten einen harten Panzer um sich errichten, um sich vor Ungerechtigkeiten zu schützen.
Ausrichtung der Aufmerksamkeit: Menschen und Situationen werden kontrolliert.
Hindernisse auf dem spirituellen Weg: Es werden erneut ungerechte Situationen kreiert, um die verinnerlichte Anschauung zu bestätigen.
Herausforderung im Wachstumsprozeß: Dem harten Panzer erlauben, weich zu werden, so daß die wahren Gefühle an die Oberfläche kommen. Vertrauen, daß diese Gefühle authentisch sind.
Was helfen kann: Die Gewohnheit erkennen, Probleme aufzurühren oder Gespräche in die Polarität von fair und unfair zu leiten. Erkennen, daß Konfrontationen und Übermaß authentische Gefühle überdecken können. Lernen, daß Kompromisse nicht Versagen bedeuten.
9. Gewohnheit: Trägheit, Selbstvergessenheit. Wut, zu der man keinen Zugang hat.
Die Weltsicht: “Ganz gleich wie sehr ich mich bemühe, es wird nichts nützen. Ich sollte mich zurückhalten.”
Kindheit: Die eigenen Bedürfnisse wurden übersehen. Das Kind lernt, die eigenen Bedürfnisse nicht zu berücksichtigen.
Ausrichtung der Aufmerksamkeit: Mit den Positionen anderer verschmelzen.
Spirituelle Hindernisse: Nicht erkennen, daß die Anschauung und die Aktionen anderer ihre sind und nicht deine eigenen.
Wachstumschance: Die Fragen: „Was denke ich?” „Was brauche ich?” Was ist mir wichtig?
Was helfen kann: Signale der passiven Aggression erkennen. Offene, im Moment ausgedrückte Wut, als ein Geschenk und einen Schritt in Richtung Wachstum sehen. Lerne das Aufsteigen der Wut im Körper wahrzunehmen. Dinge in Aktion bringen und sich selbst belohnen, wenn etwas zu Ende gebracht wurde.
Lesevorschläge:
“Das Enneagramm” von Helen Palmer
“The Intelligent Enneagram” von A.G.E. Blake.