by S. Alexander Alich, Übersetzt von Leonie Werner

Wir sind alle auf der Suche nach unserem Weg, ganz gleich wo auf der Welt wir zu Hause sind. Auf dieser Suche werden manche von uns in Kontakt mit dem Schamanismus kommen und hoffen, dort Antworten auf ihre Fragen zu finden. Leider bleiben dann oft mehr Fragen als Antworten zurück und deshalb möchte ich hier über die schamanische Perspektive des Heilens schreiben. Vielleicht kann ich damit einige Antworten geben, deutlicher machen, was Schamanismus ist und zeigen, welche Möglichkeiten er für unsere Gesundheit und unser Wachstum bereithält.

Schamanismus ist ein spiritueller Weg, der zu einem großen Geheimnis führt, das für uns unbegreiflich bleibt. Seine Wurzeln reichen in Australien 40.000 Jahre und in Sibirien 30.000 Jahre zurück. Schamanismus findet man überall auf der Welt. Er ist kein Heilmittel, keine Technik oder Methode. Man kann nichts direkt darüber lesen, nur indirekt über die Erfahrungen, die andere damit gemacht haben. Schamanismus ist keine Religionsgemeinschaft – seine Basis ist der individuelle Ausdruck. Manche haben auf diesem Weg Heilung gefunden, andere wiederum haben eine neue Lebensart für sich entdeckt.

Der Körper aus schamanischer Sicht.

Im Schamanismus sehen wir fünf Körper oder fünf Aspekte einer Person – den physischen Körper, den Verstand, das Herz, den Geist und die Seele. Diese Aspekte sind im Kreis angeordnet, die Seele liegt in der Mitte und wird umringt von den anderen vier Aspekten. Dieser Kreis bewegt und verändert sich ständig, wobei keiner der Aspekte dem anderen übergeordnet ist. Es wird vielmehr die Entwicklung, der Ausdruck und das Gleichgewicht aller Aspekte angestrebt und um dieses zu erreichen, sind viele Jahre Arbeit unter Anleitung nötig.

Die Begabung, das Trauma und der Beginn des Wegs

Denken wir an Krankheit oder an Symptome, dann geht es dabei im allgemeinen um einen Körperteil oder eine Empfindung irgendwo im Körper. Doch wenn ich mit jemandem arbeite, will ich soviel wie möglich über diesen Menschen erfahren. Ich schaue mir alle fünf Aspekte dieser Person an und dazu noch ihr Leben, ihre Arbeitssituation, ihre Beziehungen und ihre Träume. Ich gehe so vor, weil es wichtig ist zu verstehen, an welcher Stelle seines Weges dieser Mensch steht. Bei zehn verschiedenen Menschen kann das gleiche Symptom zehn verschiedene Bedeutungen haben, und dies ist schwer zu begreifen, wenn wir nicht vorher den Gesamtzusammenhang erfassen.

Wir werden mit einer bestimmten Begabung geboren, um mit dieser Gabe auch anderen zu nützen. Zu Beginn unseres Lebens ist uns unsere Verbindung mit dem großen Geheimnis und die Verbindung von uns Menschen untereinander noch vertraut. Doch bald darauf vergessen wir unvermeidlich dieses Wissen. Die Verbindung ist nicht unterbrochen, wir sind nicht getrennt, doch es kann sich für uns so anfühlen als wären wir es. Daraufhin setzt der Schmerz über diese vermeintliche Trennung ein. Das geschieht meist als Folge einer traumatischen oder schockierenden Erfahrung. Auch wenn diese nicht notwendig erscheinen mag – was sie aber ist -, ist sie auf jeden Fall ein wichtiger Schritt für unser Wachstum und unsere Erfahrung der menschlichen Existenz.

Als Folge dieses Traumas entwickeln wir Verhaltensmuster und Überlebensstrategien. Jeder von uns findet seine eigene, einzigartige Einstellung zum Leben und durch unsere Handlungen und Beziehungen bestätigen wir diese immer wieder. Wir entwickeln Angst, Zorn, Depressionen, Isolation oder Trugbilder, um nur einige Verhaltensmuster zu nennen. Diese Muster sind so tief in unserem Leben verankert, daß wir sie nicht länger erkennen können – an diesem Punkt entstehen dann die ersten Symptome. Mir ist dabei aufgefallen, daß gerade die Menschen mit der größten Begabung durch die schwersten Erfahrungen gehen müssen.

Die Heilung – Die Entfaltung unserer Begabung und die Einstimmung auf unser innerstes Ziel

Heilung ist der Prozeß, in dem wir unsere Verhaltensmuster zu ihrem Ursprung zurückverfolgen, so zu unserer innersten Begabung zurückkehren und diese nach außen tragen. Im Laufe dieses Zurückfindens wird aus Angst Mut, aus Trugbildern wird Realität und Zorn verwandelt sich in Liebe. Auf diesem Weg erinnern wir uns wieder, daß wir mit dem großen Geheimnis und allem um uns herum verbunden sind. Schließlich kommen wir wieder in Kontakt mit unserer Begabung und werden fähig, sie auch für andere einzusetzen.

Von meinen Lehrern weiß ich, daß Heilung zu 70 % von dem eigenen, persönlichen Einsatz abhängt, nur zu 20 % von der Hilfe von Great Spirit und nur zu 10 % von der Hilfe eines Heilers oder Therapeuten. Das heißt, daß wir für den Großteil der Heilungsarbeit selbst zuständig sind. Dabei können unsere Symptome uns zeigen, wo wir als nächstes ansetzen sollen. Arbeiten wir nicht selbst für unsere Heilung, können wir nur ein Symptom gegen ein anderes eintauschen – also ein Problem loswerden und unter Umständen zwei neue dabei schaffen. Wir müssen akzeptieren, daß Symptome kommen und gehen. Es gibt Zeiten, in denen wir uns wohl fühlen und Zeiten, in denen es uns schlecht geht. Erst wenn wir genug haben von unseren eingefahrenen Verhaltensweisen und dem Schmerz, den sie uns bringen, machen wir uns auf die Suche nach unserem Weg. Leider gibt es hier keine einfachen Antworten und nicht nur einen einzigen Weg.

Der erste Schritt auf dem Weg

Der wichtigste Schritt besteht darin, in unserem Leben Platz für Heilung zu schaffen und natürlich auch für alle Veränderungen und Herausforderungen, die sie mit sich bringt. In fast allen Fällen, die ich kenne, hatte die Heilung Auswirkungen auf alle Bereiche des Lebens. Wenn wir herausfinden wollen, was wir brauchen und wo wir in diesem Prozeß gerade stehen, können die folgenden Fragen eine gute Hilfe sein.

  • Will ich überhaupt gesund werden?
  • Was habe ich davon, wenn ich krank bleibe?
  • Was müßte ich aufgeben oder weggeben, um gesund zu werden?
  • Welche Hilfe brauche ich, um mein Ziel zu erreichen?
  • Welche Unterstützung brauche ich, welche habe ich bereits?

Die Hilfe von Great Spirit

Eine alte Geschichte erzählt von einem Mann, der nur noch zwei Stunden zu leben hat. Der Mann betet zu Great Spirit, und Great Spirit antwortet ihm: „Mache dir keine Sorgen, es wird alles gut, ich werde dir helfen.” Kurz darauf kommt ein Heiler nach dem anderen zu dem alten Mann und bietet ihm seine Kräuter, Tees und Gebete an. Doch der alte Mann schickt sie alle weg und sagt, daß Great Spirit ihm helfen wird. Zwei Stunden später stirbt er. Völlig verwirrt und ärgerlich fragt er Great Spirit: „Was ist denn passiert? Ich dachte, du wolltest mir helfen?” Darauf antwortet Great Spirit: „Was glaubt du denn, wer dir all die Heiler geschickt hat?”

Es stimmt schon, heute gibt es so viele verschiedene Therapien und Methoden, daß dies uns leicht verwirren kann. Genauso leicht kann es geschehen, daß wir auf unserem Weg stehenbleiben, weil wir den Wegen anderer nachjagen und herausfinden wollen, ob diese besser für uns geeignet sind. Doch das ist eine Falle, denn so können wir jahrelang auf derselben Stelle unseres Weges stehenbleiben. Wenn du auf deinem eigenen Weg bleibst, bieten sich dir viele verschiedene Möglichkeiten. Du mußt selbst herausfinden, welche für dich am besten geeignet sind – das kann dir niemand abnehmen. Doch das wichtigste dabei ist, daß du auf dem Weg bleibst, den du begonnen hast.