by S. Alexander Alich , Übersetzt von Leonie Werner
Schamanismus ist ein spiritueller Weg zu einem Mysterium, das wir nicht verstehen können. Seine Wurzeln reichen zurück bis in die Altsteinzeit, vielleicht sogar bis in die Zeit der Neandertaler, als die Menschen sich einerseits bemühten, den Tod zu begreifen, und andererseits Wege für das Überleben in einer Umgebung suchten, die sie nur unter Aufbietung aller Kräfte bewältigen konnten. Schamanismus können wir überall auf der Welt finden. Er ist kein Heilmittel für eine Krankheit, keine Technik oder Methode. Wir können ihn nicht aus Büchern lernen, auch wenn wir über die Erfahrung anderer mit Schamanismus lesen können. Schamanismus ist keine Religion, er ist von seinem Wesen her der individuelle Ausdruck eines unbegreiflichen Mysteriums. Manche Menschen haben durch ihn Heilung gefunden, für andere hat er die Tür zu einer neuen Lebensweise geöffnet.
Schamanisch Praktizierende arbeiten mit dem Spirit des Menschen, seiner Lebensenergie. Wie in früheren Zeiten entwickeln Schamanisch Praktizierende auch heute zuerst ihre eigene Beziehung zur Erde, zu den Elementen, den Pflanzen und Tieren sowie zu ihren eigenen Talenten und Geisthelfern. Ihre größte Herausforderung besteht dann darin, wie sie ihre Talente in unsere „moderne“ Welt einbringen können.
So wie ihre Vorgänger, haben auch die heutigen Schamanisch Praktizierenden meist früh den Ruf gefühlt, einem Etwas zu dienen, das größer ist als sie selbst. Sie haben oft eine Art von Krise oder spiritueller Erfahrung durchlebt, nach welcher sie die Welt aus einer größeren Perspektive sehen konnten, und sie sind in die Arbeit mit Geisthelfern initiiert worden. Im Idealfall können potentielle Schamanisch Praktizierende ihre Erfahrungen und ihre erweiterte Perspektive einsetzen, um bei ihren Klienten und in ihrer Umgebung Heilung und Wachstum zu erleichtern.
Falsche Vorstellungen und Missverständnisse
Im Rahmen meines Trainings für Schamanisch Praktizierende begegne ich immer wieder falschen Vorstellungen und Missverständnissen. Die folgenden drei sind meiner Erfahrung nach am weitesten verbreitet:
„Schamanisch Praktizierende nehmen Drogen, fallen in Trancezustände und lassen Geistwesen die Kontrolle über ihren Körper übernehmen“. Es stimmt schon, dass einige Schamanen mit Hilfe chemischer Substanzen in Trance gehen und auf diese Art in Kontakt mit dem Reich der Geistwesen treten, doch abgesehen davon existiert eine große Zahl von Möglichkeiten, sich in Trance zu versetzen. Tanzen, Singen, Trommeln und auch Anfertigen von Kunstgegenständen sind nur eine kleine Auswahl der vielen Wege, die uns in Trance führen können. Arbeite ich mit Klienten oder im Unterricht auf der Trance-Ebene, dann erwarte ich, dass die Teilnehmer und Teilnehmerinnen während der Trancereise wach und bewusst bleiben. Sollte jemand seine Erinnerung an die Erfahrungen in der Trance verlieren, wäre das ein klares Warnzeichen dafür, dass etwas schief gegangen wäre.
Ein zweites weit verbreitetes Missverständnis ist die Vorstellung, Schamanismus sei eine Form von Religion oder Kult – keins von beiden trifft zu. Schamanismus ist von seinem Wesen her Spiritualität und unsere eigene, einzigartige Erfahrung der Lebensenergie oder der Göttlichkeit.
Die dritte falsche Vorstellung nenne ich „Federschmuck und Mokassins“. Es ist ein bekanntes Klischee, dass Schamanisch Praktizierende in einer indianischen Tracht oder etwas ähnlichem auftreten müssen. Meiner Ansicht nach ist es hier wichtig sich klarzumachen, dass jede Schamanisch Praktizierende und jeder Schamanisch Praktizierende ihrem Umfeld dienen müssen, sie müssen ein Teil ihrer Umgebung oder ihrer Gemeinschaft sein. Ich habe Menschen aus völlig verschiedenen Berufen ausgebildet, manche haben in Krankenhäusern gearbeitet, andere in Schulen, in Arztpraxen, Kirchen und privatwirtschaftlichen Unternehmen.
Schamanische Arbeit in unserer Zeit
Heutige Schamanische Praktizierende berücksichtigen vier Elemente in ihrer Arbeit:
1) Zuerst, das ist das wichtigste Element, müssen wir auf den Spirit unserer Klienten und Klientinnen hören, um sie durch ihren Heilungsprozess führen zu können. Wir müssen immer fragen, was ist der ganz persönliche Weg dieses Menschen, dieses Platzes oder dieses Tieres? Was haben sie hier zu lernen und was zu lehren? Die Antwort wird für jede Situation anders lauten. Sie wird uns anleiten, auf die Art und Weise zu helfen, in der hier gelernt werden soll – für manche kann das bedeuten, ein Heilmittel für ihre Krankheit zu finden, für andere kann es heißen, sie auf ihrem Sterbeprozess zu begleiten. Es darf hier kein Urteil gefällt werden – es geht nur darum, jedes Wesen mit Respekt auf seinem Weg zu begleiten.
2) Dann müssen wir den Ausgangspunkt des Ungleichgewichts finden, das der Krankheit zu Grunde liegt. Wir wollen den Platz im Spirit der Person und ihrem Leben aufspüren, an dem das Ungleichgewicht entstanden ist, und dieses am Ursprung wieder korrigieren.
Im Schamanismus kennen wir fünf Körper oder fünf Aspekte einer Person – den physischen Körper, den Verstand, das Herz, den Spirit (Lebensenergie) und die Seele. Die Seele sitzt dabei in der Mitte, die anderen Aspekte sind im Kreis um sie herum angeordnet. Dieses Rad ist in ständiger Bewegung und Veränderung begriffen, und für uns ist deshalb kein Aspekt den anderen übergeordnet. Aber wir können sehen, wie das, was wir Krankheit nennen, kaum fassbar zuerst im Spirit erscheint. Wenn das damit angezeigte Ungleichgewicht nicht im Bereich des Spirit korrigiert wird, wandert die Krankheit weiter in die Bereiche Verstand, Herz und unter Umständen auch in den Bereich des physischen Körpers, wo sie dann schwieriger zu behandeln ist.
3) Für die Wiederherstellung des Gleichgewichts verwenden wir bestimmte Werkzeuge.
Alle Schamanisch Praktizierenden haben ihre eigene Kombination von Werkzeugen und ihre ganz individuelle „Medizin“. Unsere Medizin ist das spezielle einzigartige Talent jedes und jeder Einzelnen. Wir alle müssen unsere Werkzeuge verwenden, um bei der Wiederherstellung des Gleichgewichtes der Klientinnen und Klienten mitzuhelfen. Dabei müssen sich die Schamanisch Praktizierenden auf die zu Beginn erwähnten Beziehungen verlassen, die sie im Laufe der vielen Jahre ihrer Ausbildung aufgebaut haben. Gleichzeitig müssen sie für andere Möglichkeiten offen sein, selbst wenn diese Möglichkeiten für sie bedeuten, sich von dem zu verabschieden, womit sie sich bisher wohl gefühlt haben. Sie müssen auch dazu bereit sein, über bestehende Systeme hinauszudenken und neue Wege zu gehen, denen andere nach ihnen folgen können. Wenn eine Gemeinschaft uns zu einer solchen Arbeit einlädt, bedeutet das für uns eine ernste Verantwortung, die wir nicht leichtfertig übernehmen sollten. Schamanisch Praktizierende müssen ihr Leben in den Dienst von etwas stellen, das viel größer ist als sie selbst, und sie müssen sich regelmäßig leeren und reinigen, so dass sie durchlässig werden für die Informationen oder die Heilung, die die jeweilige Gemeinschaft braucht.
4) Das letzte Element besteht in dem Angebot, das erworbene Wissen weiterzugeben, so dass die Klienten und Klientinnen ihre Lebensqualität erhöhen können. Nachdem ich ein Jahr lang selbstständig gearbeitet hatte, erkannte ich, dass die geistige oder körperliche Heilungssitzung nur jeweils der erste Schritt im Heilungsprozess ist. Der Rest der Heilungsarbeit besteht aus dem, womit die Klienten leben und arbeiten, und dem, was sie schließlich in ihr Leben integrieren können. Dort vollzieht sich dann die wahre Heilung.
S. Alexander Alich arbeitet und forscht seit über 24 Jahren im Bereich des Schamanismus. Er gründete das FoxFire Institute of Shamanic Studies in Marin County, Kalifornien, und ist heute der Direktor für USA und Deutschland. Alexander ist auch Vorsitzender der International Association of Shamanic Practitioners, deren Ziel es ist, Behandlungsweisen und ethische Standards für die Arbeit Schamanisch Praktizierender zu erarbeiten.